Publié le 15 mai 2024

Die weitverbreitete Annahme, feste Zeiten oder ein separater Raum würden ausreichen, um im Home-Office abzuschalten, ist ein Trugschluss. Der Schlüssel liegt in der bewussten Gestaltung eines psychologischen Übergangs.

  • Die ständige Verfügbarkeit führt zu digitalem Präsentismus und emotionaler Erschöpfung, selbst wenn es niemand verlangt.
  • Wirkliche Trennung entsteht nicht durch einen Schalter, sondern durch trainierbare Rituale, die dem Gehirn signalisieren: „Die Arbeit ist jetzt vorbei.“

Empfehlung: Etablieren Sie ein kurzes, aber konsequentes Feierabend-Ritual, das mehrere Sinne anspricht (z. B. Licht ändern, Musik wechseln, kurz spazieren gehen), um eine wirksame mentale Grenze zu ziehen.

Der Laptop ist zugeklappt, das letzte Meeting des Tages beendet. Doch während der Körper vielleicht schon auf dem Sofa sitzt, rotiert der Kopf weiter. Die To-do-Liste für morgen, die eine unbeantwortete E-Mail, das anstehende Projekt – der Feierabend fühlt sich nicht wie ein Feierabend an, besonders wenn der Schreibtisch nur wenige Meter entfernt im Wohnzimmer thront. Sie kennen dieses Gefühl der permanenten mentalen Bereitschaft, das die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben auflöst. Es ist eine der größten Herausforderungen der modernen Arbeitswelt.

Viele Ratgeber empfehlen die üblichen Lösungen: Richten Sie ein separates Arbeitszimmer ein, halten Sie strikte Arbeitszeiten ein, machen Sie Pausen. Das sind allesamt valide Ratschläge. Doch sie greifen zu kurz, weil sie das Kernproblem ignorieren: Die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit ist kein logistischer, sondern ein psychologischer Prozess. Ihr Gehirn hat über Jahrzehnte gelernt, den Arbeitsweg, das Bürogebäude und den Kontakt mit Kollegen als klare Signale für den „Arbeitsmodus“ zu interpretieren. Im Home-Office fallen diese Anker weg.

Was aber, wenn die Lösung nicht nur in räumlichen oder zeitlichen, sondern in psychologischen Grenzen liegt? Was, wenn Ihr Gehirn ein neues, klares Signal braucht, um zuverlässig vom Leistungs- in den Erholungsmodus zu schalten? Dieser Artikel, aus der Perspektive einer Arbeitspsychologin, führt Sie weg von oberflächlichen Tipps und hin zu einer tiefgreifenden Strategie. Wir analysieren die Mechanismen der sogenannten „Entgrenzung“ und zeigen Ihnen, wie Sie durch bewusste Übergangsrituale eine nachhaltige Barriere zwischen Ihrem Job und Ihrem Privatleben errichten – selbst wenn beides im selben Raum stattfindet.

Bevor wir in die Tiefe der Psychologie eintauchen, hier ein praktisches Beispiel für ein kurzes, energiegeladenes Ritual, um den Arbeitsstress buchstäblich abzuschütteln und den Körper in den Feierabendmodus zu bringen.

In den folgenden Abschnitten werden wir die Ursachen für Überstunden im Home-Office entschlüsseln, konkrete Rituale zur Grenzziehung entwickeln und Ihnen Werkzeuge an die Hand geben, um Ihre Energiebilanz nachhaltig zu schützen. Entdecken Sie, wie Sie die Kontrolle zurückgewinnen und der Feierabend wieder zu einer echten Erholungsphase wird.

Warum arbeiten Sie bis 22 Uhr, obwohl Ihr Vertrag 40 Stunden vorsieht?

Die Antwort liegt in einem Phänomen, das Arbeitspsychologen als „psychologische Entgrenzung“ bezeichnen. Die physischen und sozialen Grenzen, die früher den Arbeitstag strukturierten – der Arbeitsweg, die Bürotür, der Plausch mit Kollegen in der Kaffeeküche – sind verschwunden. Ihr Wohnzimmer ist nun Büro, Kantine und Feierabend-Oase zugleich. Diese Vermischung führt zu einem subtilen, aber ständigen Druck, erreichbar und produktiv zu sein, weit über die vereinbarten Stunden hinaus. Es ist der Nährboden für den sogenannten digitalen Präsentismus: die Anwesenheit im digitalen Raum, auch wenn man krank ist oder eigentlich Freizeit hätte.

Die Erwartungen sind dabei oft nicht extern, sondern selbstgemacht. Sie entspringen dem Wunsch, als engagiert und zuverlässig wahrgenommen zu werden, oder der Angst, etwas zu verpassen. Das Ergebnis ist eine schleichende Ausdehnung der Arbeitszeit. Die Grenzen werden nicht an einem Tag eingerissen, sondern Minute für Minute verschoben, bis die Antwort auf eine „kurze“ E-Mail um 20 Uhr zur Normalität wird. Tatsächlich zeigt eine aktuelle TK-Studie, dass Menschen, die regelmäßig von zu Hause arbeiten, häufiger trotz Krankheit am Schreibtisch sitzen als ihre Kollegen im Büro.

Diese ständige kognitive Verbindung zur Arbeit verhindert die für unsere Psyche und Leistungsfähigkeit essenziellen Erholungsphasen. Der erste Schritt zur Veränderung ist die Selbsterkenntnis: Sie arbeiten nicht länger, weil es notwendig ist, sondern weil die psychologischen Barrieren fehlen. Sie haben die Fähigkeit, diese Grenzen aktiv zu ziehen, aber dafür benötigen Sie neue Werkzeuge, die über einen reinen Zeitplan hinausgehen.

Wie schaffe ich es, um 18 Uhr den Laptop zuzuklappen und wirklich Feierabend zu haben?

Das bloße Zuklappen des Laptops ist nur eine mechanische Handlung. Es sendet kein ausreichend starkes Signal an Ihr Gehirn, um vom Arbeits- in den Erholungsmodus zu wechseln. Was Sie benötigen, ist ein bewusstes Übergangsritual – eine kurze, aber festgelegte Sequenz von Handlungen, die den Arbeitstag symbolisch und psychologisch beendet. Dieses Ritual wirkt wie ein Anker, der Ihrem Gehirn unmissverständlich mitteilt: „Die Arbeit ist jetzt vorbei.“

Ein wirksames Ritual muss nicht kompliziert sein. Es sollte jedoch mehrere Sinne ansprechen, um eine stärkere Wirkung zu entfalten. Denken Sie an den „virtuellen Nachhauseweg“: eine Handlung, die die Funktion des alten Arbeitsweges übernimmt. Das kann ein 20-minütiger Spaziergang um den Block sein, bei dem Sie bewusst die Umgebung wahrnehmen. Oder Sie wechseln die Beleuchtung in Ihrem Arbeitsbereich von einem kühlen, aktivierenden Weißton zu einem warmen, gemütlichen Licht. Selbst der Wechsel der Kleidung von „Arbeitskleidung“ zu bequemer Freizeitkleidung ist ein starkes Signal.

Person beim Feierabend-Ritual mit symbolischem Übergang von Arbeit zu Freizeit
Rédigé par Julia Weber, Julia Weber ist approbierte Psychologische Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie und seit 12 Jahren spezialisiert auf Burnout-Prävention, Resilienz-Training und Führungskräfte-Coaching. Sie arbeitet sowohl in eigener Praxis als auch als Beraterin für Unternehmen in Hamburg und Berlin.